Das kleine Riesenmädchen Dorothea reitet auf einem Donnerdrachen

 

Inzwischen war der Frühling voll ausgebrochen und es war ein herrlicher Tag. Die Sonne schien warm von oben herab, der Himmel leuchtete blau und weiße Wattewölkchen zogen ruhig ihre Bahn. Die Wiesenfee hatte schon alle Knospen, die sie finden konnte, wachgeküsst und eine dicke, fette Hummel brummte von einer Blüte zur nächsten, wo sie fleißig den Nektar einsammelte, um genug Wachs und Honig für ihr Nest zu haben.

Dorothea freute sich sehr über das schöne Wetter und hüpfte singend durch den Wald und über die Wiesen, so dass der Tiger Mühe hatte, hinterherzukommen. Aber auch er freute sich über den Sonnenschein und war glücklich, dass es außerhalb der Höhle keinen Schnee mehr gab. Nachts war es zwar oft noch sehr kalt, aber das störte den Tiger und Dorothea nicht, denn da lagen sie ja im kuschligen Bett und hatten es warm und gemütlich.

An einem besonders herrlichen Morgen trat das kleine Riesenmädchen vor die Höhle und sah schon von Weitem, wie sich die Grashalme auf der nahegelegenen Wiese sanft hin und her wiegten. Sie wusste sofort, dass dort ihr Freund Sausewind auf sie wartete, denn die drei Freunde hatten sich auf der Lichtung verabredet, um gemeinsam zu spielen.

„Sausewind, mein liebster Windgeist“, rief Dorothea und rannte sofort auf die Stelle zu, wo sie die wiegenden Halme gesehen hatte, als ihr plötzlich ein kleiner Windstoß ins Gesicht fuhr und die Haare kräftig durchblies. Auch Sausewind hatte seine Freundin gesehen und wollte sie so auf seine eigene Art begrüßen. Der Tiger sprang zur Begrüßung in die Luft und ließ sich vom Windgeist ein wenig das Fell am Bauch streicheln. Dann tobten sie zusammen über die Wiese, schrien dabei um die Wette und machten Luftsprünge, um zu sehen, wer am weitesten hüpfen konnte.

Nachdem Dorothea, Sausewind und der Tiger eine Weile gespielt hatten, rief eine Hummel etwas genervt: „Blütenstaub und Blumenduft noch eins! Ihr drei seid ja wilder als der wildeste Wirbelsturm. Das hält man ja im Kopf nicht aus! Wie soll man denn als kleine Hummel zum Nektarsammeln kommen, wenn ihr hier rumtobt? Seid doch bitte so lieb und verschwindet von hier, damit ich in Ruhe meiner Arbeit nachgehen kann. Ihr wisst doch, wie dringend ich den Nektar brauche. Vielleicht könnt ihr ja zu den uralten Waldgespenstern gehen und euch von ihnen eine Geschichte erzählen lassen.“

Das kleine Riesenmädchen entschuldigte sich, denn sie hatten es ja nicht böse gemeint und Dorothea wusste auch schon, dass die Hummel unbedingt Nektar sammeln musste, um nicht zu verhungern. Und dabei wollte sie gewiss nicht stören. Außerdem gefiel ihr die Idee, sich von den Waldgespenstern eine Geschichte erzählen zu lassen und sich dabei vom Rumtoben ein wenig auszuruhen. Auch der Tiger und Sausewind mochten den Vorschlag der Hummel. Also verabschiedeten sie sich und machten sich auf den Weg.

Als die drei Freunde beim Teich ankamen, war zunächst kein Waldgespenst zu finden. Das war im Frühling sehr ungewöhnlich, denn zu dieser Jahreszeit waren die uralten Hüter des Waldes, genau wie alle anderen Waldbewohner, oft sehr beschäftigt. Einige mussten ihre Erdlöcher auf Vordermann bringen und die Schäden, die der Frost und das Schmelzwasser angerichtet hatten, reparieren und die übrigen Waldgespenster hatten damit zu tun, im Wald nach dem Rechten zu sehen und zu kontrollieren, ob auch alles seinen Gang gehen würde.

Doch heute war niemand zu sehen. Es gab kein Wühlen in Erdlöchern, keine schlurfenden Füße und auch kein geschäftiges Grummeln. Nur einige Bäume wiegten sacht hin und her und hier und da hörte man ein leises Klappern alter Knochen.

Dorothea und ihre Freunde wunderten sich ein wenig, aber dann entdeckte das kleine Riesenmädchen plötzlich in einer Baumkrone den Kopf eines der uralten Waldgespenster.

„Nanu“, fragte sie verwundert, „Was machst du denn da oben im Baum? Ihr klettert doch sonst nicht auf Bäume und schon gar nicht so weit nach oben.“

„Ach, das ist wegen dem Gewitter, das es heute Nachmittag geben wird“, kam die Antwort aus dem Wipfel einer Kastanie. Und schwupps steckte ein anderes Waldgespenst seinen Kopf aus dem Blätterdach, während es noch geschäftig hantierte. „Immer vor dem ersten Gewitter des Jahres müssen wir unsere Bäume vorbereiten und vor den Blitzen der Donnerdrachen schützen, damit sie unsere Baumverstecke nicht spalten oder in Brand setzen. Und da haben wir heute noch eine Menge zu tun.“

„Was ist denn ein Donnerdrachen?“, wollte der Tiger wissen.

„Oh, von Donnerdrachen habe ich schon oft etwas gehört“, warf Sausewind ein. „Das sind riesige fliegende Ungeheuer, die immer mit den Gewitterwolken kommen, in denen sie sich verstecken. Sie haben ganz schuppige Körper mit großen Flügeln und zwei Köpfe an langen Hälsen. Und wenn es gewittert, dann speit ein Kopf Blitze und der andere Kopf lässt seine Stimme erschallen, so dass es laut donnert. Gesehen habe ich aber noch keinen, weil die anderen Windgeister sagen, dass ich noch zu klein bin für einen großen Gewittersturm. Donnerdrachen sind nämlich ganz schön gefährlich, auch für Windgeister.“

„Das ist auch gut so“, murmelte ein junges Waldgespenst. „Ich habe schon einige Windgeister gesehen, die sich übermütig im Gewittersturm einem Donnerdrachen genähert haben und dann von seinem großen Schwanz gepeitscht wurden. Von den gefährlichen Blitzen will ich gar nicht erst reden. Da hat sich schon so mancher mehr als nur die Finger verbrannt. Deshalb rate ich euch, ja recht vorsichtig zu sein und euch in Acht zu nehmen, wenn das Gewitter kommt. Am besten wird es wohl sein, wenn ihr euch in Dorotheas Höhle verkriecht. Dann könnt ihr in aller Ruhe das Gewitter beobachten und mit etwas Glück vielleicht sogar einen Donnerdrachen erspähen, ohne Gefahr zu laufen, euch zu verletzen.“

„Ach du Schreck!“, mautzte der Tiger etwas ängstlich, denn er hatte keine Lust, sich sein schönes Fell zu verbrennen. „Wie lange dauert es denn noch, bis das Gewitter anfängt?“

„Na, noch müsst ihr euch keine Sorgen machen. So lange der Himmel so schön blau ist und nur die kleinen, weißen Wolken zu sehen sind, wird sich auch kein Donnerdrachen blicken lassen“, grummelten die Waldgespenster. „In den nächsten Stunden könnt ihr noch draußen spielen. Erst wenn der Himmel grau wird, müsst ihr euch in die Höhle zurückziehen. Vielleicht könnt ihr uns ja in der Zwischenzeit helfen, unsere Bäume gewitterfest zu machen.“

Das wollten Dorothea, Sausewind und der Tiger natürlich gerne tun und so schleppten sie altes Holz, befreiten die Bäume von toten Ästen und lauschten dabei den Geschichten der uralten Waldgespenster, die von ihren abenteuerlichen Begegnungen mit den Donnerdrachen erzählten.

Am Nachmittag zogen dann die ersten Wolken auf und der Himmel wurde immer grauer und dunkler, bis es schließlich zu regnen anfing. Da sagte das älteste Waldgespenst: „Jetzt müssen wir aber rasch in unsere Erdlöcher und ihr drei lauft schnell nach Hause!“ Also beeilten sich das kleine Riesenmädchen und der Tiger, in ihre Höhle zu kommen. Und weil es noch nicht so spät war, kam Sausewind einfach mit ihnen.

Gerade als Dorothea mit dem Tiger und dem Windgeist in der Höhle ankam, zuckten in der Ferne schon die ersten Blitze vom Himmel und von Weitem rollte das donnernde Gebrüll der Donnerdrachen heran.

„Ach, ist das aufregend“, sagte Dorothea. „Und auch ganz schön gruselig“, ergänzte der Tiger, dem sich die Nackenhaare sträubten, während das Gewitter immer näher kam. Trotzdem rührten sich die drei nicht vom Fleck, starrten gebannt in die Dunkelheit und zuckten jedes Mal ein wenig, wenn ein greller Blitz mit Donnergetöse aus den Wolken schoss.

Gerade als das Gewitter genau über dem Berg mit der Höhle war, stieß ein gewaltiges Ungetüm aus den Wolken hervor, schleuderte einen kräftigen Blitz aus seinem linken Maul in den Fels, so dass die Steine nur so splitterten, und gleichzeitig dröhnte aus dem rechten Maul der gewaltigste Donner, den Dorothea je gehört hatte. Das war also ein Donnerdrachen! Das kleine Riesenmädchen und der Windgeist jubelten vor Aufregung, während sich der Tiger vorsichtig etwas tiefer in die Höhle zurückzog.

Doch dann passierte etwas völlig Unerwartetes: Es krachte gewaltig, die Höhle zitterte und ein paar kleine Tropfsteine fielen von der Decke zu Boden. Dann landete ein Donnerdrachen laut jammernd vor der Höhle und streichelte mit seinen Flügeln den rechten Kopf. Als er Dorothea im Höhleneingang sah, fauchte er ein wenig und Rauch kam aus seinen Nasenlöchern gestiegen. Aber eigentlich hatte er gar keine Lust, sich zu streiten, sondern er war nur verletzt und ein wenig ängstlich.

Ohne lange nachzudenken, rannte das kleine Riesenmädchen in den Regen hinaus, um nach dem verletzten Donnerdrachen zu schauen und ihn zu fragen, ob sie ihm helfen könne. „Was ist denn passiert?“, wollte sie wissen, während dem Drachen das Blut vom rechten Kopf floss, das der linke Kopf mit der Zunge vorsichtig ableckte.

„Oh, was war ich doch unvorsichtig!“, klagte der rechte Kopf. „Ich habe nicht aufgepasst und bin gegen den Berg gestoßen, weil ich ihn zu spät gesehen habe. Jetzt brummt mir der Schädel wie zehn Bienenstöcke und ich kann kaum etwas sehen, weil mir das Blut in die Augen läuft.“

„Du armer Donnerdrachen!“, sagte Dorothea mitfühlend, „Ich kann mir gut vorstellen, wie weh das tut, aber ich habe auch schon eine Idee, wie ich dir helfen kann.“ Schnell rannte das kleine Riesenmädchen in die Höhle zurück, holte ein großes Pflaster und einen Beutel voll Eis und lief wieder nach draußen. Dann klebte sie dem Drachen das Pflaster auf seine Wunde und drückte ihm den Eisbeutel auf die Stirn, um seine Kopfschmerzen zu lindern.

„Ach, wie gut das tut“, freute sich der linke Kopf des Donnerdrachens. „Hab‘ vielen Dank, meine Liebe. Darf ich mich hier noch eine Weile ausruhen, bevor ich wieder in die Gewitterwolken zurückkehre?“

„Aber natürlich!“, sagte das Riesenmädchen. „Du darfst dich hier so lange ausruhen, bis es dir wieder besser geht.“ Dabei streichelte sie dem Gewitterflieger die beiden Hälse, um ihn zu trösten.

Es dauerte auch gar nicht lange und als sich der Drachen erholt hatte, stellte er sich auf seine Beine, schwang die Flügel und reckte seine langen Hälse in die Höhe. Dann sprach er mit donnernder Stimme: „Liebes Riesenmädchen, ich danke dir für deine Hilfe. Wenn ich dir einen Wunsch erfüllen kann, musst du es nur sagen und er sei dir gewährt.“

Da schaute Dorothea schüchtern auf den Boden vor ihren Füßen, denn sie hatte schon einen großen Wunsch. Aber sie traute sich nicht, ihn auszusprechen und ein wenig ängstlich war sie auch, denn obwohl sie schon groß und stark war, war sie auch noch ein kleines Mädchen. Ein kleines Riesenmädchen eben. Aber der Donnerdrachen konnte sich schon denken, was Dorothea sich wünschte und während er mit seinen beiden Zungen ihre Hände zärtlich leckte, blickte er ihr in die Augen und fragte: „Möchtest du mal auf meinem Rücken durch das Gewitter reiten?“

Da leuchteten Dorotheas Augen vor Freude auf und sie nickte stumm, aber glücklich. „Dürfen meine Freunde Sausewind und der Tiger auch mitkommen?“, fragte sie leise.

„Das macht mir nichts aus“, antwortete das zweiköpfige Wesen. „Kommt und schwingt euch auf meinen Rücken. Aber ihr müsst euch gut festhalten!“

Sofort kletterten das kleine Riesenmädchen und der Windgeist auf den Drachen und umklammerten die Hälse. Nur der Tiger war etwas ängstlich, aber schließlich wollte er sich dieses Abenteuer doch nicht entgehen lassen und sprang auf Dorotheas Schoß, wo er sich mit seinen großen Krallen an ihrer Hose festhielt.

Und dann ging es los: Mit seinen kräftigen Schwingen erhob sich der Donnerdrachen in die Lüfte und stieg immer höher bis in den Himmel, wo er mit Dorothea und ihren Freunden in den Gewitterwolken verschwand. Dort brauste er durch die Luft, während das kleine Riesenmädchen vor Begeisterung laut schrie und jubelte. Endlich konnte sie wie die Windgeister durch die Luft fliegen!

Lange kreisten sie so durch den Himmel, während um sie herum die anderen Donnerdrachen Blitze spien und ihr Donnergebrüll ertönen ließen. Auch die großen Windgeister stürmten um sie herum und brausten in den Ohren. Erst als das Gewitter weiter zog und die anderen Donnerdrachen nur noch am weit entfernten Horizont zu sehen waren, kehrte der Drachen wieder zur Höhle zurück, wo er Dorothea, Sausewind und den Tiger absetzte.

„Jetzt muss ich mich aber beeilen und wieder zu meiner Familie zurückkehren“, sagte er zum Abschied und verschwand am Horizont, während die drei Freunde ihm noch lange nachblickten und winkten.

Als Dorothea am Abend nach dem Essen mit ihrem Tiger im Bett lag und ihr Papa die Gute-Nacht-Geschichte erzählt hatte, flüsterte das kleine Riesenmädchen leise: „War das ein toller Flug. Und es war auch furchtbar aufregend. Um ganz ehrlich zu sein, manchmal hatte ich aber ein bisschen Angst, dass ich runterfallen könnte.“

„Also ich hatte riesige Angst“, antwortete der Tiger. „Aber schön war es trotzdem.“

Dann schliefen die beiden ein und träumten von ihrem wilden Ritt durch die Wolken. Hoffentlich würde der Donnerdrachen sie beim nächsten Gewitter wieder mitnehmen.