Wie das kleine Riesenmädchen Dorothea für den Baumwichtel einen Schuh bastelte

 

Inzwischen war es Herbst geworden. Stürmisch fegte der Wind durch die bunten Blätter der Bäume und schüttelte sie von den Zweigen. Jeden Morgen zogen lange Nebelschwaden durch den Wald und tauchten die Welt in ein undurchdringliches Weiß. Die Kastanien und Eicheln fielen auf den Boden und alle Tiere waren damit beschäftigt, die Früchte des Waldes einzusammeln und sich Wintervorräte anzulegen. Die Rehe ästen das letzte grüne Gras, damit sie genug Speck unter ihr Fell bekamen, um im Winter nicht zu hungern und auch die Igel fraßen alle Würmer und Insekten, die sie finden konnten, damit sie ihren Winterschlaf gut überstehen würden.

Der Herbst war Sausewinds liebste Jahreszeit. Überhaupt liebten alle Windgeister den Herbst, weil sie so wild wie sonst nie durch den Wald stürmen konnten. Dabei pfiffen sie so laut, dass es durch den ganzen Wald schallte, wirbelten wie verrückt die herabgefallenen Blätter auf und schüttelten alle Bäume und Sträucher kräftig durch.

Auch das kleine Riesenmädchen Dorothea fand, das der Herbst eine tolle Jahreszeit war. Man konnte zwar nicht mehr baden gehen und in der Sonne liegen wie im Sommer, aber dafür gab es viele andere spannende Sachen, die man machen konnte. Dorothea naschte jeden Tag von den vielen Beeren und Früchten, die im Wald wuchsen, bastelte sich aus den bunten Blättern und Kastanien lange Ketten und Armbänder oder sie schob das Laub zu großen Haufen auf und sprang hinein, dass es eine wahre Freude war. Am liebsten aber ließ sie mit ihrem Freund Sausewind ihren großen Drachen über den Bäumen steigen. Dabei hielt sie in der einen Hand die Schnur und mit der anderen Hand hob sie den Drachen hoch in die Luft. Dann kroch Sausewind unter den Drachen und wenn das kleine Riesenmädchen losließ, pustete und pustete er und trug so den Drachen bis hinauf zu den Vögeln, die in den warmen Süden flogen, um dort den Winter zu verbringen. Oben im Himmel wirbelte er Dorotheas Flieger wild durch die Wolken, ließ ihn Kreise drehen, Schleifen fliegen oder auch nur auf und ab hüpfen. Das kleine Riesenmädchen schaute dabei gespannt von unten zu und lachte stürmisch über die verrückten Sachen, die Sausewind mit ihrem Drachen anstellte. Manchmal wurde er dabei so ungestüm,  dass ihm der Drachen vom Rücken rutschte und hinunter fiel. Aber das machte den beiden nichts aus, denn sie mussten ihn ja nur einsammeln und dann konnte es von vorne losgehen.

Gerade, als der Drachen wieder einmal von Sausewinds Rücken gefallen und abgestürzt war, konnte Dorothea ein leises Schimpfen und Fluchen zwischen den Bäumen vernehmen und während der Windgeist über die Wipfel der Bäume streifte und den Drachen suchte, schaute das kleine Riesenmädchen zwischen den Bäumen nach, wer denn da so eine üble Laune hatte. Nach einer kurzen Weile entdeckte sie einen kleinen Baumwichtel, der auf seinem Bein um einen dünnen Baum herum hüpfte und dabei ordentlich vor sich hin schimpfte.

Baumwichtel sind kleine, einbeinige Männchen, die immer lustige Hüte tragen. Und was die Hutmode angeht, sind die Baumwichtel wirklich einfallsreich. Da gibt es braune, weiße und lila Hüte, Hüte mit und ohne Flecken, olle Schlapphüte oder auch eigenartig geformte spitze Hüte mit vielen Falten und Furchen. Am besten aber gefielen dem kleinen Riesenmädchen die roten Hüte mit den weißen Punkten obendrauf, weil sie so schön glänzten.

Da Baumwichtel freundliche und lustige Wesen waren, konnte sie Dorothea gut leiden und freute sich immer, wenn sie einen dieser Gesellen mit ihren komischen Hüten zwischen den Bäumen entdeckte.

„Was hast du denn, du kleiner Baumwichtel, dass du so unanständig fluchst und schimpfst?“, erkundigte sich das kleine Riesenmädchen neugierig.

„Ach, es ist schon ein rechtes Elend mit dem Wetter“, grummelte der Baumwichtel unter seinem lila Hut. „Kaum ist diese fürchterliche Trockenheit des Sommers vorbei und es fällt endlich mal ein wenig Regen, da wird es auch schon so kalt, dass man kaum mehr seinen Fuß vor die Tür setzen kann.“

„Warum kommt ihr denn eigentlich im warmen Sommer nie aus euren Verstecken heraus?“, wollte Dorothea wissen.

„Ja, das stimmt natürlich. Im Sommer wäre es schön warm“, entgegnete der kleine Kerl, „aber dann ist es auch immer trocken und wir Baumwichtel haben eine schrecklich empfindliche Haut, die sofort austrocknet, wenn es nicht geregnet hat und dann schrumpeln wir ein und gehen elend zu Grunde.“

„Ach, das wäre wirklich schade. Aber es ist nun einmal nicht zu ändern, dass es kälter wird, wenn es viel regnet. Dagegen kann man nichts machen. Außerdem würde das Wasser ja sofort wieder verdunsten und es wäre wieder viel zu trocken, wenn es wärmer wäre“, sagte das kleine Riesenmädchen.

Inzwischen hatte Sausewind den Drachen gefunden und war mit ihm zu Dorothea zurückgeflogen. Er setzte sich auf ihre Schulter und lachte leise über den kleinen Wichtel mit seinem lila Schlapphut. Es war auch einfach zu lustig, wie er schimpfend um den Baum herum hüpfte.

„Nun, das weiß ich doch auch“, jammerte der Baumwichtel weiter. „Aber wenn man ständig mit seinem nackten Fuß auf dem nassen, kalten Boden steht, dann frieren die Zehen so fürchterlich, dass man es kaum aushalten kann. Es ist ein wahres Wunder, dass ich mich noch nicht erkältet habe und mit Fieber im Bett liegen muss.“

„Na, so etwas Verrücktes macht man doch auch nicht!“, lachte Dorothea und Sausewind lachte mit ihr. „Man darf doch nicht barfuß über den nassen und kalten Boden laufen. Hast du denn keinen Schuh für deinen Fuß?“

„Einen Schuh?!?“, wunderte sich der Baumwichtel. Von einem Schuh hatte er noch nie etwas gehört.

„Sieh doch mal hier an meinen Füßen!“, sagte das kleine Riesenmädchen und streckte ihre Füße dem Baumwichtel entgegen, damit er sich ihre Schuhe angucken konnte.

„Uiiih! Die sind ja riesig“, entgegnete der Baumwichtel erstaunt. Natürlich waren Dorotheas Füße riesig, denn obwohl sie noch ein kleines Mädchen war, hatte sie als Riesenkind trotzdem schon riesige Füße. Kleine Riesenmädchenfüße eben. „Aber wo sind die Schuhe?“, fragte das Männchen weiter.

„Aber das sind doch die Schuhe“, antwortete Dorothea und zog sich einen Schuh aus. „Mein Fuß steckt in dem Schuh, damit er nicht kalt und nass wird.“

„Ach, so ist das also“, sprach der Baumwichtel und hüpfte gleich in Dorotheas Schuh hinein. Scheinbar wollte er sich dieses Wunderwerk genau betrachten, denn aus dem Inneren des Schuhs kamen lauter Ooohs und Aaahs. Nach einer Weile steckte der kleine Kerl seinen Kopf wieder heraus und sagte: „Ja, schön warm ist es hier drinnen, aber was soll ich mit so einem riesigen Ding anfangen? Dafür bin ich doch viel zu klein.“

„Aber nein!“, antwortete Dorothea, während sich Sausewind den Bauch vor Lachen halten musste. „Ich bin doch ein kleines Riesenmädchen und brauche deshalb auch so riesengroße Schuhe. Du bekommst natürlich einen kleinen Schuh, der zu deinem kleinen Fuß passt.“

Vorsichtig drehte Dorothea ihren Schuh um, ließ den frechen Wichtel sanft auf den Boden plumpsen, wo er sich schüttelte und schlüpfte wieder mit ihrem Fuß in den Schuh. Dann begann sie sofort, aus langen Grashalmen ein kleines Netz zu flechten wie sie es von der Spinne gelernt hatte und bat Sausewind, etwas trockenes und weiches Moos zu suchen.

Das kleine Riesenmädchen war nämlich nicht nur groß und stark, sondern auch sehr geschickt. Und da sie auch für ihre Puppen schon kleine Schuhe gebastelt hatte, wusste sie, was sie zu tun hatte. Gerade als sie das Netz aus Grashalmen an ein Stück Birkenrinde gebunden hatte, das als Sohle dienen sollte, kam Sausewind mit dem Moos zurück. Davon nahm Dorothea ein wenig und stopfte es in den Schuh, damit es der Fuß des Baumwichtels warm und gemütlich hatte. Dann gab sie dem kleinen Männchen den Schuh und der schlüpfte sofort hinein.

„Mmmmh!“, stöhnte der Baumwichtel wonnevoll. „Ist das ein schönes Gefühl, endlich keine kalten Zehen mehr zu haben! Das hast du wunderbar gemacht. Ich werde den Schuh sogleich ausprobieren und meinen Freunden zeigen. Die haben nämlich auch immer so kalte Füße.“

Stolz hüpfte der Baumwichtel mit seinem neuen Schuh in den Wald hinein und winkte zum Abschied mit seinem lila Schlapphut, während Sausewind und Dorothea ihm nachblickten und freundlich lachten, weil der kleine Kerl so ulkig aussah.

Dabei sprach Sausewind, der immer noch mit dem Drachen auf Dorotheas Schulter saß, voller Bewunderung: „Also dass du groß und stark bist, das wusste ich ja von Anfang an, aber dass du auch Schuhe machen kannst, das hätte ich nie gedacht.“

Da lächelte das kleine Riesenmädchen stolz, aber sie war zu bescheiden, um darauf einzugehen und so sagte sie nur: „Komm, es ist schon spät geworden und bald ist es dunkel. Lass uns zu mir nach Hause gehen und Abendbrot essen.“

Dann liefen die beiden zur Höhle, wo Dorotheas Mama schon die Kartoffelsuppe gekocht hatte. Natürlich gab es genug Suppe für alle und so durfte auch Sausewind mit der Riesenfamilie zusammen Abendbrot essen. Dabei erzählte Sausewind von dem Baumwichtel und dem Schuh, den das kleine Riesenmädchen gebastelt hatte. Dorothea wurde ein bisschen rot, weil Sausewind sie so sehr lobte, aber die Eltern freuten sich auch über ihre kleine Riesentochter und deshalb erlaubten sie Sausewind in dieser Nacht bei Dorothea im Bett zu schlafen.

Glücklich schlüpften die beiden nach dem Essen in Dorotheas Bett und lauschten der Gute-Nacht-Geschichte, die der Riesenpapa erzählte. Bevor sie einschlief, murmelte Dorothea noch leise: „Und ich bin froh, einen so lieben Freund wie dich zu haben.“ Dann fielen ihr die Augen zu und sie träumte davon, wie sie mit Sausewind durch die Luft brauste.